
Mit ungewöhnlich viel Schnee hat das neue Jahr 2021 im Centovalli begonnen. Klirrende Kälte seit Wochen. Rauch steigt überall aus den Kaminen. Und drinnen freut sich, wer sich am wohligen Feuer erwärmen kann und abends, wie in alten Zeiten in einem Buch blättern darf. Ein besonders passendes ist mir von Karl Iten und Willi Schwitter in die Hände gefallen, das mit einem Gedicht von Joachim Ringelnatz beginnt: Rauch
„Erdentbunden steigt ins lichte
Himmelreich der Rauch.
Uferlos dramatische Geschichte
Spielt ein Hauch.
In Sekunden blickentschwunden
Trägt er doch Substanz und Geist
Nach Gesetz ins Ungefähre.
Manchmal wünsche ich, ich wäre
Derart erdentbunden
Endlich abgereist.
Könnte niemand mich umarmen.
Könnte niemand mich vernichten.
Doch ein Rauch kann wie Erbarmen
Wunderfromm zum Himmel dichten.“

Eigentlich ist es kein Buch, sondern ein Kunstwerk auf mehr als tausend Seiten in Schwarz- und Weisstönen ohne Seitennummerierung, sanft schwebend, eben wie der Rauch aus den Kaminen steigt. Mit mehr Fotos von wundersamen und seltsamen Konstrukten bebildert, als mit Text versehen. Selbst Faksimile fehlen nicht. Fein säuberlich nach Tessiner Regionen geordnet, beschreibt es akribisch illustriert die phantastische Welt der Kamine über den Steindächern: i Comignoli
Die Motivation des passionierten Werkes liegt im Wandel und Zerfall der ursprünglichen Tessiner Behausungen: Karl Iten leitet ein: „Im November 1974 entdeckte ich auf einem Haus in Claro zwei reizvolle alte Kamine. Das Haus war nichts Aussergewöhnliches, ja vielleicht sogar hässlich. Aber die beiden Kamine, die auf seinem Dache standen, verliehen ihm einen Zug von warmer Menschlichkeit. Wieviel Phantasie strömten sie aus, wieviel Wärme und Poesie. … Als ich im Dezember, kaum einen Monat später, wieder südwärts fuhr, waren sie verschwunden! Das Dach wurde neu gedeckt, und man hatte die Gelegenheit benützt, sie zu entfernen. Ein paar Tage später erhob sich bereits ein neuer Kamin auf dem Dach: verglichen mit seinen Vorgängern ein phantasieloser, äusserst fader und langweiliger Geselle. Das alte Haus steht seither recht hilflos und armselig da und man sieht nur noch seine Hässlichkeit….
Nichts von Bedeutung, werden Sie denken. Freilich – man wird diesen Verlust verschmerzen, genauso wie man Dinge verschmerzt hat, die viel bedeutender waren. Aber: Auf diese Art wird unsere Umwelt von Tag zu Tag ärmer. Die Summe zahlloser Details wiegt immer schwerer, wir werden das in einer nicht allzu fernen Zukunft in einer völlig verarmten Umwelt ernüchtert entdecken. “ Bald 50 Jahre später weiss wohl jeder, was der Autor damit meinte. Einen echten Kulturschatz hat er mit seinem Buch geschaffen.
Die wundersame Vielfalt der Tessiner Schornsteine erschliesst sich einem über die vielen Bilder, die akribisch als Bestandesaufnahme dokumentiert und mit vielen erläuternden, aber vor allem auch poetischen Texten versehen sind. Besonders interessiert uns Kapitel 6: Pedemonte und Centovalli:
Passend zur heutigen Zeit endet das Buch mit einem Zitat aus Bertolt Brecht’s Gedicht „Das Lied vom Rauch„
Die da alt sind,
hör ich,
haben nichts zu hoffen,
denn nur Zeit
schafft’s und an Zeit
gebricht’s.
Doch
uns Jungen,
hör ich,
steht das Tor weit offen.
Freilich, hör ich,
steht es offen nur ins Nichts.
Und auch ich sag:
lass es!
Sieh
den grauen Rauch,
der in immer
kältre Kälten geht:
so
gehst du auch.
Das Werk gehört eigentlich in jede gute Tessiner Stube. Doch, es ist leider nur noch antiquarisch zu kaufen – oder vielleicht noch in einer Bibliothek erhältlich. Karl Iten (1931 – 2001) und Willi Schwitter (1932 – 2018) schweben heute selbst in ihrer phantastischen Welt über den Steindächern.
Das Buch enthält auch Texte von Piero Bianconi und Pietro Salati, erschienen im „Verlag Buchdruckerei Gamma & Cie. CH 6460 Altdorf“ © 1975 Karl Iten