Heiss ist es geworden, schon im Juni dieses Jahr. Du möchtest auf einer Blumenwiese liegen, bis spätnachts, um die Johanniskäfer leuchten zu sehen und Dich anderntags in der eiskalten Melezza erfrischen. Dazwischen driftest Du weg in Deine Tagträume und bist auf dem besten Weg ein richtiger Traumonaut zu werden. Einer, der diese Fantasien schon vor zwanzig Jahren durchlebt und in Buchform gegossen hat ist Kurt Hutterli. Sein fiebrig lustvolles Welttheater mit seiner Erfindung einer Wirklichkeit durch die Zeiten ist eine teuflische Geschichtsschreibung, die Menschen und Sagen wieder auferstehen lässt.
Ein Roman, der durch Klopfdiktate des Schriftstellers und Politikers Victor Hugo und mit Aufzeichnungen des anonymen Geheimagenten I. die Bewegungen und Erregungen um Louis Napoleon III wieder aufleben lässt. Ein bisschen Geschichtskenntnis ist dazu schon erforderlich, aber die hat Kurt Hutterli, als Nachfahre eben dieses Kaisers, der im 19. Jahrhundert auf Schloss Arenenberg residierte.
Die Protagonisten des komplexen Gewebes durch Geschichte, Geschichten und Mythen sind der in Intragna wohnhafte Gymnasiallehrer Luigi Turri und der Jesuitenpater Pietro Angeloni. Im Dirinei-Tunnel nehmen die beiden ganz seltsame, wundersame und unheimliche Geräusche wahr. Ob die Gesänge und das Getrommel wohl aus der insubrischen Linie stammen? Gemeinsam mit dem wieder auferstandenen japanischen Dichter Prof. Ueda Akinari lüften sie einen Teil der Geheimnisse um die Madonna von Re und werden dort in die Welt der verhexten Francesca di Re(-ventlow) entführt.
Wie der Bergbach rauscht!
Selbst die Steine singen jetzt:
„Kirschbäume blühen!“
Onitsura
Mit ausschweifenden Erotika aus dem indianischen Raum und frivolen Schilderungen aus dem napoleonischen Boudoir ist das Buch nicht ganz jugendfrei. Da es sich mit den historischen Begebenheiten recht anspruchsvoll liest, besteht aber kaum Gefahr, dass es in falsche Hände gelangt. Berichtet wird auch von handgeschriebenen Seiten, die im Beichtstuhl der Kirche von Corcapolo auftauchten, welche den verkommenen Klerus in den Tessiner Bergtälern anprangerten, vom Erzbischof San Carlo Borromeo höchst persönlich verfasst. Überhaupt wird an dunklen Geschichten in diesem vielschichtigen Werk nicht gespart, wie z.B. 1758 der erste Probst von Intragna, Don Paolo Giuseppe Bustelli mit einer Axt erschlagen wurde und die Hand des Mörders danach den Eingang des Pfarrhauses zierte. Erst (Goethes?) Hexe Faustina enthüllt schlussendlich am Karneval von Intragna im inquisitorischen Verhör mit Dottore Balanzoni-Lombardi das wahre Geheimnis des Centovalli Brautgeschenks.
Durch den ganzen Roman zieht sich auch eine Liebesgeschichte über die Zeiten hinweg. Mit dem Augenzwinkern des Weihnachtsgeschenks von zwei Badehosen aus einer Soutane geschneidert oder dem sprechenden Diwan von Tante Graziella ist für jede Leserin und jeden Leser etwas dabei. Trotzdem war das Frauenbild des Kurt Hutterli bei all den beschriebenen kleinen Obszönitäten bereits vor 20 Jahren recht emanzipiert. Auf einem gefalteten Papier erfährt Herr Turri vom Zwillingsbruder des Agenten I. den Kern seiner Gedanken: „Im Traum erscheint uns die Kehrseite der Dinge oder ihre Tiefe; man sieht die Dinge von innen, die Perspektive ist eine andere. Was sonst sollte man glauben, wenn nicht das, was die Träume sagen? Sie sprechen die Sprache unserer geheimsten Gedanken. Es heisst, im Traum sei man nicht bei Bewusstsein, aber das ist bloss eine Redensart. Nur im Traum ist man bewusst und hellsichtig.“ Vielleicht wird genau das Klarträumen genannt? …
Kurt Hutterlis Hommage an das Centovalli möchte ich mit diesem Beitrag endlich auch eine Hommage an Kurt Hutterli persönlich hinzufügen, dessen Liebe zum Centovalli sich bis heute in seinem Blog „Von Tal zu Tal“ aus dem kanadischen Okanagan Valley in vielen Beiträgen zeigt.
Das „Centovalli Brautgeschenk“ ist im Verlag Waldgut, ISBN 3 7294 0331 1 erhältlich. Wenn Dir jetzt schon im Liegestuhl oder in der Hängematte unter einem Schatten spendenden Baum der Lesestoff ausgegangen ist, wende Dich doch übers Internet an https://buchland.ch , um vielleicht ein letztes Exemplar des Centovalli-Universums zu ergattern.
P.S. Übrigens hat meine Familie selbst einen Bezug in die napoleonische Ära. Es sind „Musik-Stühle“ die aus dem Hause Zellweger in Trogen stammen sollen. Landamman Jakob Zellweger pflegte eine Freundschaft mit Hortense de Beauharnais, der Mutter von Napoleon III, die auf Schloss Arenenberg im Exil lebte. Sie besuchte ihn mehrmals in Trogen und schätzte seine Gesellschaft und seinen Rat. Im Juli 1816 gab er für Madame la Duchesse de St. Leu, Hortense de Beauharnais, die Ex-Königin Hollands und Stieftochter von Napoleon Bonaparte, in seinem Haus ein Diner. Soweit die Erzählung…
Ich versuchte das halbe Dutzend Stühle dem Museum Schloss Arenenberg zu schenken, stiess aber leider auf kein Gehör. Die schönen Möbelstücke wurden in den weiteren Jahren vom Nachwuchs unserer Familie zugrunde geritten. Über ihren heutigen Zustand kann ich nichts mehr berichten.
Vielen Dank für den schönen und informativen Bericht. De Siedlung Remagliasco (Foto) auf dem Weg von Corcapolo und der Ponte Romano wurde von mir und unseren KursteilnehmerInnen schon oft gezeichnet.
herzlich Mario