Im schönen Bildband der «Associazione Pro Centovalli e Pedemonte» von 1988 habe ich eine spannende Geschichte von Prof. Daniele Maggetti gefunden und diese so gut wie mir möglich ins Deutsche übersetzt. Die Zeiten der Cholera-Epidemien sind auch eine Brücke zur aktuellen Corona-Krise.
«Aus einer Urkunde zum Tessiner Besuch des Bischofs Giovan Ambrogio Torriani, 1669-1672 sowie aus den Archiven des Kardinal Federico Visconi hat Don Giuseppe Gallizia, Archivar der Kurie von Lugano, die Dokumente gelesen und so zusammengefasst: „Der Ehrwürdige Pfarrer ermahnt vom Altar aus die Art und Weise, wie man sich in der Kirche zu betragen hat, keine Waffen oder Hüte auf dem Kopf in Gegenwart des Sakraments Gottes zu tragen (…) und dass während der Verbreitung der christlichen Lehre und anderer kirchlicher Vorgänge keine Gastfreundschaft gegenüber Schaulustigen gewährt werden darf“: Trotz ihrer Eindringlichkeit haben die Worte von Bischof Torriani nach einem Pastoralbesuch in Borgnone wahrscheinlich nicht die erwarteten Wirkungen erzielt.
Was sich daraus erahnen lässt, bestätigt, was sich auch aus den Schriften von Karl Viktor von Bonstetten und der Dichterin Friederike Brun ableiten lässt: die Erde der Centovalli nährte (wenn auch nur wenig…) eine harte und isolierte Bevölkerung, die so wild war und leichter zu Gewalt neigte als zu Kompromissen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass das örtliche Gedächtnis – ohne historische und chronologische Anhaltspunkte, um den Zugang zur vagen Zeitlichkeit der Legenden zu erleichtern – einige Ereignisse bewahrt hat, die sich auf Raubüberfälle konzentrierten und um Figuren herum aufgebaut wurden, die von einem für gewisse kriminelle Handlungen typischen Heiligenschein von Anziehung und Abstoßung umgeben sind.
Am Fuße der Centovalli haben Generationen von alten Männern die traurigen Taten von Ghiga oder Scigolett erzählt und sie zu fragwürdigen Helden gemacht, auch wenn ihre Taten nichts Lobenswertes hatten. Es waren nicht die „guten“ Robin Hood-Räuber, wie der schräge „Passator cortese“ oder der berühmte „Sozialbandit“ Mattirolo di Vacallo, der zwischen 1813 und 1902 lebte. Es war, als ob man die schmerzliche Abwesenheit von Ruhm im Tal ausgleichen wollte. Da es unmöglich war, Bewunderung zu wecken, liessen sich so zumindest einige Schauer der Angst hervorrufen.
Über Ghiga, einen Bandit, dessen Spuren in Camedo erhalten geblieben sind (dank einer wenig zugänglichen Höhle, der „Balm“, die sein Unterschlupf gewesen war), werde ich nichts schreiben; seine Geschichte ist bereits an anderer Stelle veröffentlicht worden. Ich möchte stattdessen die Abenteuer von Scigolett (Pietro Maggetti), erzählen, die mir bis heute aus mündlicher Überlieferung geblieben sind.
Der zentrale Schauplatz des Geschehens ist eine Taverne in Borgnone. Vor dem Bau der Fuhrstraße ging Ende des 19. Jahrhunderts der Saumpfad, der vom Valle Vigezzo nach Locarno führte, mitten durch das Dorf, das trotz seiner ständigen Verkleinerung (1824 z.B. hatte es etwa dreißig Einwohner) als Zentrum der Terre di Solivo diente. Es kamen also viele Menschen aus Italien, und diejenigen, die dorthin fuhren, machten einen letzten Halt vor dem Piemont. Die Sagolett (den Ursprung des Begriffs kenne ich nicht – es gibt Leute, die von einer Uhr sprechen, die ein Schlingel auf der Weste trug, daher der Spitzname) übten den Beruf der Herbergsleute in einer familiär geführten Taverne aus, die vielleicht in den oben erwähnten bischöflichen Kirchenbann geriet, die aber bei denjenigen, die dort aßen, durchaus Vertrauen erweckte. Das Haus stellte auch ein Bett für die Nacht zur Verfügung. Die unglücklichen Reisenden, vor allem wenn sie etwas Geld in der Tasche hatten, wurden dann mittels einer seltsamen Vorrichtung, einer Art rustikaler Guillotine, deren Klinge in der Dunkelheit auf die ahnungslosen Hälse der Gäste fiel, barbarisch abgeschlachtet. Nachdem die Leichen verschwanden, oft in den Kellern, ging alles weiter, als ob nichts geschehen wäre; die Abgeschiedenheit des Ortes und die Umsicht der Übeltäter erstickten jeden Verdacht.
Aber die Scigolitts (was im Plural eher den Eindruck einer organisierten Bande, als den eines einzelnen Individuums erweckt) beschränkten sich nicht auf das Blutvergießen innerhalb des Hauses. Sie zögerten nicht, Passanten anzugreifen, die sie für reich hielten. Ein armer Mann von Olgia oder Folsogno, der den ganzen Weg nach Borgnone kam, um den Pfarrer zu bitten, einige Hemden für kranke Menschen, die jenseits der Grenze lebten zu segnen (in einer Art Krankenhaus-Lazarett, das es in der Zeit von Epidemien und der drohenden Cholera gab, um die Ansteckung an der Grenze zu stoppen), wurde vom Gastwirt verfolgt und getötet … für eine Beute von ein paar Cents! Als Spezialisten für alle Arten von Diebstählen stahlen die Kriminellen bei einer anderen Gelegenheit ein dickes Kalb aus der Gegend von Rovedana in der Nähe von Lionza und machten daraus bald ein üppiges Bankett. Zum Thema Vieh (Grundlage der damaligen Wirtschaft) sei erinnert, dass sie einmal von den Bewohnern Olgias eine rötliche Ziege gestohlen haben. Zurück und allein im Haus, aber überrascht von den Eigentümern, die gekommen waren, um ihr Vieh zurückzuholen, ging die Ehefrau oder Mutter des Tavernenbesitzers schreiend auf die Terrasse hinaus, wo sie mit einer Donnerbüchse zum Schweigen gebracht wurde und für einige der unter ihrem Dach begangenen Missetaten bezahlen musste.
Der unglückliche Mann hielt noch einige Jahre durch. Es gab in der Region seltsame Gerüchte und Gemurmel, aber niemand wagte es, den Scigolett anzuprangern, aus Angst und weil sein entschlossenes Gesicht entwaffnend war. Er wurde mit seiner Antwort an Leute zitiert, die ihm in Corcapolo, wo man ihn bereits kannte, rieten das Weite zu suchen: „Wer wehtut, hat keine Angst“.
Am Anfang nach seiner Verhaftung meinten einige, das Verbrechen hätte seine Spuren auch in der eigenen Familie hinterlassen. Ein Neffe, der nach Frankreich ausgewandert und nach Hause zurückgekehrt war, entging der tödlichen Behandlung der Scigollits nicht. Sie hatten in diesem gut gekleideten Besucher ihren Verwandten nicht wiedererkannt. Die Mutter des Opfers kam zu spät in die berüchtigte Taverne und verbrachte ihr Leben in Verzweiflung damit, von Crignola aus, wo sie lebte, die Grabstätte des Sohnes zu beweinen: Dies war das Ereignis, das im Scigolett Reue auslösen und Gerechtigkeit widerfahren lassen sollte. Aber anderen zufolge seien die Behörden durch einen Fremden aus ihrem Schlaf geweckt worden… Jedenfalls irrte der Bandit, einmal entdeckt und zur Flucht gezwungen, eine Weile umher und wählte aus seinen Verstecken den Dachboden der Kapelle des Salèe auf dem Weg nach Lionza. Vogelfrei entkam er mehrmals den Gendarmen. Eine berühmte Episode besagt, dass der Scigolett, als ihm jemand zur Kapitulation riet, „auch die alten Füchse werden geschnappt“, lakonisch geantwortet hätte: „Aber nicht mit diesem Pelz“. Von einer Patrouille umzingelt musste er auf eine Brücke fliehen, ist über die Brüstung gerutscht ist und so davongekommen. Er wurde später gefasst, es ist nicht bekannt, unter welchen Umständen. Nach einem langen Prozess, in dem er nicht weniger als 32 Morde gestanden haben soll, wurde er zum Tode verurteilt, es wird gesagt, zum Erhängen in Giubiasco, es wird aber auch gesagt – vielleicht in Erinnerung an seine Methoden – zur Enthauptung in Losone. Was von ihm übrig blieb, jenseits des Ruhmes, war eine geheimnisvolle Erscheinung, ein Geist oder eine Seele im Schmerz, ganz in rot gekleidet (einige sahen darin eine kirchliche Figur), die sich manchmal in der Nacht zwischen den Kiefern in der Nähe der Kapelle des Salèe erhob.
Von all diesen Ereignissen glaubte ich lange Zeit, es handele sich um nichts anderes als die lokale Wiederbelebung einer Legende, die verschiedenen europäischen Kulturen gemeinsam ist. Zum Beispiel die Episode des „irrtümlichen“ Mordes an einem Mitglied der eigenen Familie ist auch die Handlung einiger französischer Volkslieder oder des Theaterstücks «Le Malentendu» von Albert Camus sowie mündlicher Überlieferungen, die über den Atlantik, insbesondere in Südamerika, weitergegeben wurden.
Neugierde und Zufall haben mir nun Elemente geliefert, die mich nicht nur daran hindern, so kategorisch zu sein, sondern mich auch glauben lassen, dass sich die historische Grundlage der Ereignisse nicht allzu sehr von dem unterscheidet, was erzählt wird. Der Name „Scigoleta“ (wie auch der von „Ghigheta“) taucht in den Kirchenbüchern von Borgnone zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf, und bestimmte Verschwundene, einige schlimme Todesfälle, die zwischen den Zeilen desselben gelesen werden können, scheinen die Wahrheit der Tatsachen zu bestätigen, unterstrichen durch das Echo eines immer noch mysteriösen Strafprozesses, der um 1825 angesiedelt wird. Es ist wahrscheinlich, dass sich in der mündlich überlieferten populären Version die von einer Gruppe von Übeltätern begangenen Taten, die sich vielleicht auf mehrere Generationen und mit Sicherheit auf mehr als eine Familie erstrecken, in einer einzigen Person konzentrieren und damit ihre Tragweite übertreiben. Meine Hypothese ist die einer „Sippe“ der Scigolitts (die Häufigkeit des Plural, von dem ich bereits gesprochen habe, ist nicht zufällig), einer heterogenen Bande von Banditen, die vielleicht durch eine Verwandtschaft verbunden sind (angesichts des hohen Endogamiegrades, der unsere Regionen in den vergangenen Jahrhunderten kennzeichnete, nicht überraschend), die die prekäre politische Lage in den Anfangsjahren des Kantons Tessin, die juristischen Lücken, die geographischen (Grenznähe, Isolation) und sozialen Bedingungen (geringe Präsenz von Männern, bedingt durch die Emigration) ausnutzte, um sich ohne Skrupel durchzusetzen. Eine sorgfältigere historische Untersuchung sollte es ermöglichen, das Gesicht, die Anzahl und die Handlungen derer zu bestimmen, die sich hinter einem Namen verbergen, der seit mehr als anderthalb Jahrhunderten den Umwälzungen des Fortschritts, den neuen Straßen, der Entvölkerung und der Eintrübung der Erinnerungen standgehalten hat.»
Beitrag von Prof. Daniele Maggetti, 1988 – erschienen im Bildband der «Associazione Pro Centovalli e Pedemonte», Intragna
Der in Lausanne lebende Prof. Daniele Maggetti – Directeur du Centre des littératures suisses romandes (CLSR), hat mir kürzlich geschrieben, dass er seither weitere historische Recherchen durchführen konnte, die es ihm ermöglicht haben, viel mehr über die WIRKLICHE Geschichte der „Räuber“ zu erfahren und sie weit detaillierter zu beschreiben. Bleiben wir gespannt, was da noch an gruseligen Details ans Licht gelangt… Und vielen Dank an ihn für die Erlaubnis zur Veröffentlichung dieses Textes in meinem Blog!
2015 hat er die Geschichte auch in seinem Roman „La Veuve à l’enfant“ (ins Italienische übersetzt als „La vedova col bambino“) sehr realitätsnah erzählt. Ein weiteres Buch (2019) aus den Centovalli „Une femme obscure“ erzählt eine Geschichte inspiriert von seiner Grossmutter, die in meinem Nachbarhaus lebte. Schade, dass die beiden Romane nicht auf Deutsch übersetzt wurden…
Die Geschichte und Legende um Scigolett und Ghiga wurde 2012/2013 von Kurt Hutterli (Autor) und Dimitri (Idee) im Geschichtenzug durch die Centovalli erstmals in Szene gesetzt. 100Valli – 100Ricordi, ein unvergesslicher Theaterspass, der 2019 eine Nachfolge-Inszenierung fand.
Schön, lieber Robert, dass der Scigolett-Text von Daniele Maggetti dank Deiner Übersetzung jetzt auch auf Deutsch zugänglich ist. Die Geschichte des Räubers Ghiga, der in der Ribellasca-Schlucht bei Camedo seine Höhle hatte und sich von der Polizei mit einer Einladung zu Polenta und Käse überlisten liess, gefiel mir sehr, als ich sie als Kind hörte. 1981 erschien dann mein Jugendtheaterstück „Ghiga – Wie der berüchtigte Räuber vom fahrenden Theater gefangen wurde“. Es endet mit einem Polenta-Essen, zu dem die Theatertruppe das Publikum einladet. 2010 waren unsere Enkelkinder Sonja (damals sechsjährig) und Raphael (vierjährig) bei ihrem zweiten Besuch bei uns im Okanagan Valley so begeistert von der Geschichte, dass ich sie immer wieder erzählen musste und wir uns zwischen Felsen in unserem Kiefernwäldchen einen Ghiga-Unterschlupf einrichteten.
Herzliche Grüsse aus British Columbia, wo jetzt die Aufforderung „Be kind, be calm, be safe!“ die durch die „Self-isolation“ gestressten Nerven beruhigen soll…
Kurt
Hallo Robert,vielen Dank für Deine interessanten Berichte.
Hoffentliich erweckt die Geschichte nicht etwa den Eindruck,dass Passanten heutzutage gleich behandelt werden!
Herzliche Grüsse vincenzo
Spannend, wie (auch) Du es verstehst, die Lebendigkeit verständlich und buchstäblich be-greiflich zu machen. Kompliment! Und vor allem finde ich es schön, das Tessin nicht einfach als „Sonnenstube“ vorgesetzt zu bekommen….
Complimenti — ausgezeichnete Übersetzung!
MB