Aline Valangin ist im selben Jahr gestorben, als ich mein erstes Rustico im Centovalli renovierte. Und sie war aus verschiedenen Gründen bedeutungsvoll für mich, obwohl sie ennet dem Ruscada im Onsernone-Tal wirkte und lebte; eben auch in einem „Dorf an der Grenze“. Wer ihre „Geschichten vom Tal“ einmal gelesen hat, wird von der Vergangenheit der kargen Gegend und der Armut und Härte des Lebens der Menschen im Sopraceneri betroffen und beeindruckt bleiben.
Aber meine Geschichte ist eine andere. Stell Dir vor, eine junge, hübsche, blonde Stewardess der damaligen Swissair, fliegt in den frühen 60-er Jahren um die Welt und sammelt Kunst und Antiquitäten für ihre Galerie in Zürich. Doch dann entdeckt Doris Zimmermann während einer Reise nach Ascona in einem Antiquitätengeschäft einen zwar nicht speziell tessinerischen, aber kraftvoll rustikalen Bauernschrank. Das Geschäft gehört Wladimir Rosenbaum, einem Zürcher Rechtsanwalt, dem wegen seinem antifaschistischen Engagement im spanischen Bürgerkrieg das Anwaltspatent entzogen wurde. Doris ist nicht nur von dem inzwischen berühmten Rosenbaum fasziniert, sondern vor allem von dem schönen Schrank. Sie beschliesst diesen zu kaufen, benötigt dazu aber noch ein Haus, um ihn aufzustellen. In den Centovalli, im fast gänzlich verlassenen Bergdorf Costa Borgnone, auf 875 m.ü.M., wo auch im Winter meist die Sonne scheint, wird sie fündig. Sie bringt den Schrank in ein verlottertes Rustico, wo er sich nach Renovation des Hauses aufgrund seiner Grösse nicht mehr weg- oder weiter transportieren lässt. Doris Zimmermann erfreut sich in der verschlossenen Tessiner Gemeinde grosser Beliebtheit. Fast ehrfurchtsvoll wird sie von den Einheimischen „La Bionda“ genannt.
Als Doris mir später ihr Haus verkaufte und meine liebste Nachbarin wurde, hat sie mir auch ein Buch des Biographen Peter Kamber überlassen, das mich tief berührte. Die „Geschichte zweier Leben – Wladimir Rosenbaum und Aline Valangin“ ist nicht nur eine Geschichte von wiederholter politischer Verfolgung, nicht nur ein Sittenbild einer offenen Ehe im fernen Nachhall der Bewegung um die Jahrhundertwende am Monte Verità, sondern und vorallem eine berührend persönliche Begegnung mit zwei besonderen Menschen. Sybille Rosenbaum-Kroeber, Rosenbaums dritte Frau, erzählt im Buch von Peter Kamber, dass Aline Valangin einmal ihr gegenüber in Gegenwart Rosenbaums bemerkte: „Und begraben möchte ich ja gern, wenn Sie nichts dagegen haben, mit Euch. Die Antwort lautete: „Natürlich habe ich nichts dagegen Aline. Das wäre ja komisch, wenn wir uns da unten nicht alle vertragen sollten.“ Es sei ein heiteres Gespräch unter drei Leuten gewesen sein, die mit dem Tod auf gutem Fusse standen.
In den 80-er Jahren, als Doris Zimmermann einem Krebsleiden erlag, erlebte das Dorf eine Renaissance mit neu Zugezogenen und einer neuen Generation Sesshafter, die in der Gründung eines Dorf-Vereins mündete. Doch davon später.
Die Zentralbibliothek der Universität Zürich beschreibt den Lebenslauf von Aline Valangin in Kürze:
„Aline Valangin wurde am 9. Februar 1889 als Aline Ducommun in Vevey geboren, ihr Grossvater war der Friedensnobelpreisträger Élie Ducommun (1833-1906). Sie wuchs in Bern auf und erhielt mit 5 Jahren den ersten Klavierunterricht. Ab 1904 studierte sie am Konservatorium in Lausanne Klavier bei einem Busoni-Schüler, brach aber die Ausbildung im fortgeschrittenen Stadium wegen einer Daumenverletzung ab. Nach Anstellungen als Privatsekretärin im Elsass und nach Kriegsausbruch als Klavierlehrerin in Bern wurde Valangin 1915 Analysandin und in der Folge Schülerin und Assistentin des Psychoanalytikers Carl Gustav Jung in Zürich.
Von 1917 bis 1940 war Valangin mit dem russisch-jüdischen Rechtsanwalt Wladimir Rosenbaum verheiratet. Das gemeinsame Wohnhaus in Zürich-Stadelhofen und die 1929 in Comologno TI erworbene Villa „La Barca“ dienten als Treffpunkt bedeutender Literaten und Künstler. Ab Mitte der 1930er Jahre lebte Valangin als Schriftstellerin in Comologno und Ascona, bis Mitte der 1960er Jahre zusammen mit Wladimir Vogel, den sie nach der Scheidung von Rosenbaum geheiratet hatte.
Aline Valangin starb am 7. August 1986 in Ascona.“