Dr. Max Gschwend (Ɨ 2015): „Bauernhäuser der Schweiz“ © 1988,
Schweizer Baudokumentation, Die Bauernhäuser des Kantons Tessin – La casa rurale nel Canton Ticino , Basel 1976, vergriffen.
Publiziert mit freundlicher Genehmigung von Herrn Thomas Züttel, Leiter Redaktion Schweizer Baudokumentation und Dr. Benno Furrer, Wissenschaftlicher Leiter Schweizerische Bauernhausforschung.
Allgemeines
Ursprünglichen und reinen Steinbau finden wir in unserem Land nur in den Alpen, insbesondere in den Tälern der Südabdachung (1).
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Das ist eigentlich nicht seltsam, wenn man bedenkt, dass der Massivbau ein weitverbreitetes Kennzeichen des Mittelmeerraums ist, der mit seinen klimatischen, geschichtlichen und kulturellen Einflüssen bis an die Südseite der Alpen vorstösst. Die zum Teil schwer zugänglichen Täler bildeten im Laufe der wechselvollen Geschichte nicht selten Rückzugsbereiche für verfolgte oder in Kriegen aufgeriebene Völkerschaften. Daher ist zu erwarten, dass bei genauerer Untersuchung noch manch eigenartiges Element auftauchen wird. Andererseits drangen die Walser von Norden über hochgelegene Pässe ins Piemont, kamen nach langen Wanderungen ins Bündnerland und nach Vorarlberg, während die lnnerschweizer über den Gotthard in die Tessiner Täler vorstiessen. Deshalb stehen auch am Südhang der Alpen — besonders in den Hintergründen der Täler — Blockbauten, wie wir sie vom nordalpinen Bereich her gewohnt sind. Es durchdringen sich in den oberen Bergtälern des Tessins Holz und Stein, Blockbau und Massivbau. In der vorliegenden Übersicht wollen wir uns auf den reinen Steinbau des mittleren Tessins beschränken, also des südlichen Teils jenes Gebietes, das man als „Sopracenero“ (nördlich des Monte Ceneri gelegen) bezeichnet. Wir beziehen damit den Steinbau, der auch in den südlichen Bündner Tälern vorkommt, nicht in unsere Betrachtungen ein, sondern versuchen, im eng beschränkten Raum dreier Talschaften (Maggia-, Verzasca-, Tessintal) den Überblick über eine handwerklich hervorragende Konstruktion und eine eigenartige Form der Raumordnung zu gewinnen.
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(2) Steinbrücke Lavertezzo TI
(3) Giebelständige Häuser am Hang, teilweise mit offenen Dachräumen, Mergoscia TI
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(4) Mittelalterliches Mauerwerk, grosse Eckquader mit Ausgleichsschichten, Brissago TI, 1553
(5) Mittelalterliche Werkstein-Mauer (1424), neben späterer Bruchsteinmauer, Mergoscia TI
(6) Türe mit tympanonartigem Architrav und eingemeisseltem Kreuz, Cresciano TI
Material und Konstruktion
Karg ist der Boden, dem die Tessiner Bauern das Lebensnotwendigste abringen müssen. Reich vorhanden aber sind hervorragende Bausteine (Gneis, Kalk), die in grossen oder kleinen Steinbrüchen gewonnen werden. Der kristalline Schiefer, vor allem Gneis (Granit ist nicht geschiefert), bildet ein leicht zugängliches Material, das, durch geschickte Hände bearbeitet, günstige Blöcke für das Mauerwerk oder lange Platten für die Bedeckung des Daches ergibt.
In abgelegenen Siedlungen finden wir Hirtenunterstände, Milchkeller oder Kleinviehställe, die häufig unter Verwendung des falschen Gewölbes vollständig aus Stein erbaut sind. Bei den meisten Häusern bestehen aber wenigstens das Dachgerüst, die Bodenbalken in den Geschossen oder Türstürze und -gewände aus knorrigen Lärchen-, Tannen- oder Kastanienbalken. Aber da auch das Dach mit Steinplatten belegt ist, dürfen wir ohne weiteres immer noch von reinem Steinbau sprechen.
7a/b/c
7a: Sparrendach, Sparren auf einfachem Ankerbalken, Cresciano TI
7b: Sparrendach, Sparren auf doppeltem Ankerbalken, Moghegno TI
7c: Sparrendach, Sparren auf Wandpfette, Mergoscia TI
Die zahllosen Stützmauern, die die steile Neigung der Hänge brechen und mithelfen, den wertvollen Boden der Rebberge und schmalen Äckerlein zu erhalten, bestehen aus lose aufeinandergeschichteten Gneisblöcken. In die Mauern gesteckte, vorstehende Platten erlauben als einfache Treppen das Auf- und Absteigen. Es sind die gleichen Treppen, wie wir sie am Äusseren vieler Häuser später wieder antreffen werden. In derselben Technik, als Trockenmauern, sind vor allem einfache Häuser errichtet. Mit unendlicher Sorgfalt werden die oft ungefügen Steinblöcke ohne verbindenden Mörtel in ca. 60 cm dicken Mauern auf- und nebeneinandergeschichtet. Die Tessiner Handwerker haben es in dieser Technik zu einer ganz hervorragenden Fertigkeit gebracht, und es erstaunt den Beschauer stets von neuem zu sehen, mit welcher Geschicklichkeit grosse und kleine Steine so gefügt werden, dass alle Unebenheiten ausgeglichen sind. Besonders an den Ecken der mittelalterlichen Häuser oder an den fast zyklopischen Türen finden wir nicht selten fachmännisch behauene Werksteine. Natürlich hat man hei vielen Bauten auch einen mit feinem Quarzsand vermischten Mörtel verwendet, der die Fugen dicht schliesst. Aber auch dann präsentieren sich die Hauswände noch heute meist in rohem Zustand, höchstens um die Fensterleibungen zieht sich ein weithin leuchtender Verputzstreifen. Die mittelsteilen Dächer (ca. 40° am Dachfuss) werden gestützt von einem Sparrengerüst. Die Sparren stehen unverrückbar entweder auf der Wandpfette (gesichert durch einen Ankerbalken) oder noch häufiger direkt auf den durchziehenden Anker- oder Stichbalken. Damit wird ein festes Gespärre erreicht, was um so notwendiger ist, als der schwere Dachbelag einen enormen Seitenschub ausübt. In der Längsrichtung werden die Sparren allerdings nur durch vereinzelte schräge Windstreben sowie die aufgelagerten Dachlatten gesichert, während nie ein Firstbalken vorhanden ist. Das gewichtige Steinplattendach trotzt jedem Sturm und macht daher zusätzliche Verstrebungen überflüssig. Die Sparren sind am First verblattet und mit einem Holznagel verbunden; auch die Dachlatten werden durch Holznägel gehalten. Für die ganze Dachkonstruktion wurde in früherer Zeit tatsächlich kein einziger Nagel gebraucht. Die Abstände der Dachlatten werden noch heute nach alter Sitte mit Faust und ausgestrecktem Daumen der einen Hand gemessen.
Auf dieses starke Gerüst legt man in sauberer Arbeit die breiten Steinplatten. Den First überragen sie gegen die wetterabgekehrte Seite in mehrfacher Lagerung. Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Neigung der Platten sehr flach ist und keineswegs mit jener des Daches übereinstimmt. Wir wollen hier nicht auf die zahlreichen Mischformen eingehen, wie sie in den Dachgerüsten der Grenzbereiche gegen den Blockbau mit seinem Pfettendach vorkommen. Vielleicht ergibt sich ein andermal Gelegenheit, solche Formen einander gegenüberzustellen. Die Ankerbalken, die auch bei alten Häusern etwa doppelt vorhanden sind, bilden beim reinen Sparrendach ein wesentliches Konstruktionselement. Von ihnen hängt die Stabilität und Sicherung der Seitenwände des Hauses ab. Die beiden äusseren liegen auf den Giebelseiten des Hauses, während die Sparren zwischen den übrigen auf kurzen Stichbalken aufgesattelt sind. Hier sind die Ankerbalken stets mit den Wandpfetten überblattet oder verkämmt, während wir im Ständergebiet des Genfer Beckens durchgezapfte antrafen.
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(8) Sparrendachkonstruktion auf Hausruine. Gegeneinandergestellte Sparren, querliegende Dachlatten mit Holznägeln, die die Dachlatten oben und unten halten, Mergoscia TI
(9) Dachfuss eines Sparrendaches mit Sichtbalken, mehrere Wandpfetten, Brione, Verzasca TI
Da der Dachboden tiefer liegt als die Anker-Balken, ziehen diese im Innern des Hauses frei durch den Dachraum. Dadurch entsteht ein fünfeckiger Giebelteil, während er sonst dreieckig ist. Man bezeichnet diese Art als «Kniestockdach», eine Erscheinung, die in Mitteleuropa weit verbreitet, deren Ursprung und Bedeutung aber immer noch unklar ist. Nur mit Mühe kann man die freien Ankerbalken übersteigen. Sie behindern die Ausnutzung des Dachraums stark. Dennoch konnte sich diese eigenartige Konstruktion bis in die neueste Zeit behaupten, was beweist, dass es sich dabei um eine Form handeln muss, deren Bedeutung nicht unterschätzt werden darf.
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(10) Steinplattendach in typischer Lagerung. Am First der auf die wetterabgekehrte Seite vorkragende Aufbau (Hut), Brontallo TI