Hausform und Einteilung

Hausform

Die massiven bäuerlichen Bauten im Sopraceneri sind relativ klein. Die kleinsten Wohnhäuser messen aussen 2,9 x 3,4 m, haben also wenigen als 10 m2 Grundfläche. Dafür strebt der Baukörpern um so mehr in die Höhe. Das Ganze wird stets von einem Giebeldach gekrönt. Giebelseitig ist der Dachüberstand sehr klein, die Dachplatten sind oft bündig mit den Mauer; an der Traufe wird die Dachfläche dagegen nicht selten durch Stützen oder Tragen, besonders über Treppen oder Lauben, vorgezogen.

Die übrigen Dachformen treten nur vereinzelt auf. Walmdächern — übrigens auch mit Sparrenkonstruktion — lassen sich noch da und dort erkennen. Auf kleineren Bauten, die von allem wirtschaftlichen Zwecken dienen, liegen etwa Pultdächer, spitze Kegel- oder Pyramidendächern.

Das Äußere des Hauses wird vor allem durch zwei Elemente mitgestaltet: die Aussentreppen und die Lauben. Die hier bestehenden Zusammenhänge werden im nächsten Abschnitt in den wichtigsten Zügen besprochen.

Im ganzen Sopraceneri sind die enggedrängten Siedlungen charakteristisch. Die kleineren und grösseren Dörfer im Steinbaubereich sind bekannt — besonders wenn sie am Hang liegen — für ihre schmalen und winkligen Strassen und Treppenwege. Noch verwickelter sind die Besitzverhältnisse. Durch ständige Erbteilung sind die Anteile in immer kleinere Teile zerlegt, so dass ein Bauer oft nicht mehr einen ganzen Bau, sondern nun noch einzelne Räume oder Bruchteile von Gebäuden sein eigen nennt. Die komplizierte Nutzung muss dann in Übereinkunft mit den übrigen Besitzern geschehen, von denen oft viele nach Übersee ausgewandert sind.

DachraumGiebelraum11+12

(11) Dachraum eines alten Hauses mit Kniestock, frei durchziehenden doppelten Ankerbalken (links) und dazwischenliegender Wandpfette, Frasco TI (15. Jh.)
(12) Dachraum mit Blick gegen vordere Giebelwand, Mergoscia TI

Einteilung und Funktion

Die relativ kleinen bäuerlichen Bauten im Sopraceneri dienen gewöhnlich nur wenigen Zwecken. Hier herrscht also ganz offensichtlich der Mehrhausbau mit getrennt konstruierten Gebäuden. Die jahreszeitlichen, immer seltener werdenden Wanderungen der Bauern führten auf langen Wegen hinaus zu den Rebhängen der Magadinoebene oder hinauf auf die hochgelegenen Alpweiden. Überall, wo ein Bauer Grundbesitz hatte, verfügte er auch über entsprechende Bauten oder mindestens über Anteile an solchen. Der alpine Streuhof ist hier in ausgeprägter Form vorhanden. Man wird bestimmt verstehen, wenn wir darauf verzichten, die zahlreichen vorhandenen Wirtschaftsbauten (Heustall, Speicher, Trotte, Kastaniendörrhaus, Backofen, Milchkeller, Weinkeller usw.) und jene des ländlichen Gewerbes (Ölen, Mühlen, Stampfen usw.) zu behandeln. Sie gehören zwar unbedingt zum bäuerlichen Betrieb, aber in erster Linie sollen uns die Zusammenhänge bei den Wohnbauten interessieren, zeigen sie doch eine Entwicklung, die hier in voller Klarheit und Folgerichtigkeit sichtbar wird. Dabei können wir den ganzen Formenreichtum nur andeuten, das Augenmerk auf einige Besonderheiten richten und die genaue Besprechung einer späteren, ausführlichen Publikation überlassen.

Dorfbild 13

(13) Dorfbild mit Giebeldächern, links ein Walmdach. Im Vordergrund Reben in Doppelkultur, Preonzo TI

Alle dargestellten Möglichkeiten sind im Siedlungsbestand des Sopraceneri heute noch vorhanden. Nebeneinander stehen die verschiedensten Formen und Entwicklungsstadien. Sie sind herausgewachsen aus unterschiedlichen Bedürfnissen und erfüllen bis in die neueste Zeit ihre Funktionen. Daher waren sie lebensfähig und blieben erhalten. Seit dem letzten Krieg haben aber auch in diesen Bergtälern ganz entscheidende wirtschaftliche und soziale Änderungen eingesetzt, so dass der alte Baubestand ernsthaft gefährdet ist. Beim reinen Mehrhausbau dient ein Gebäude nur einer einzigen Funktion. Selbst die Wohnbedürfnisse sind getrennt, man braucht also ein kleines Haus für die Feuerstelle, ein anderes zum Schlafen. Tatsächlich fanden wir durch neuere Forschungen im zentralen Alpenraum getrennt gebaute, massive Feuerhäuser neben hölzernen oder gemauerten Schlafhäusern. Was später als Küche, in der man auch wohnte, mit Kammer bezeichnet wird, waren räumlich getrennte Bauten. Das Tessiner Steinbaugebiet kennt keine eigentliche Stube. Der in Maggia oder Tessintal auftretende heizbare Raum hängt mit der hier eingedrungenen nordalpinen Bauweise zusammen und zeigt gewöhnlich den von aussen heizbaren Ofen „pignia“. Die Küche mit ihrer offenen Feuerstelle ist gleichzeitig Wohnraum. Separate Schlafhäuser, die teilweise den Bauern bei ihren Wanderungen Unterkunft boten, stehen noch da und dort, nicht selten kombiniert mit Speicherräumen oder einem Backofen.

Es ist klar, dass eine solche Trennung der Wohnfunktionen in separate Gebäude bei höheren Ansprüchen gewichtige Nachteile aufweist. Daher will man gerne die beiden Haupt- Wohnräume im selben Bau vereinigen.

Entwicklungsgeschichtlich bestehen zwei Möglichkeiten: Entweder setzt man die Räume auf gleicher Ebene nebeneinander (horizontale Raumordnung), oder man stellt sie übereinander (vertikale Raumordnung).

Da die horizontale Raumordnung sehr günstig ist und verschiedene Wege für die Weiterentwicklung den Bauten offen lässt, ist sie weit verbreitet. Wir werden bei anderer Gelegenheit Beispiele von Formen, die sich daraus ergeben, anführen. Im Sopraceneri folgte man dagegen der vertikalen Raumordnung. Die Räume werden übereinandergestellt, grundsätzlich immer so, dass jedes Geschoss nur einen Raum enthält. Die Grundfläche bleibt nahen relativ klein, dafür wind das Haus schmal und hoch.

Ausgangspunkt bildet auch hier das einräumige Feuerhaus, von dem es in abgelegenen Siedlungen immer noch welche gibt. Sie enthalten nun die geschützte Herdstelle, auf der man die Nahrung zubereitet. Man schlief im duftenden Heu des Stahls.

Turmartiges Haus18 Vertikalschnitt 18b

18a Turmartiges Haus (Ansicht), Rasa TI

18b Vertikalschnitt

Wenn man das einräumige Feuerhaus etwas erhöhte und eine Decke einzog, erhielt man ein zweiräumiges Haus. Ebenerdig lag die Wohnküche, darüber ein Dachraum, den man zur Lagerung von Heu und zum Schlafen benutzen konnte. Die weitere Entwicklung ergibt sich von selbst. Viele Häuser besitzen drei aufeinanderfolgende Räume, ihre Funktion hängt von den jeweiligen Bedürfnissen ab, sie kann auch im Laufe der Zeit wechseln. Am häufigsten folgen sich: Keller-Küche-Dachraum oder Küche-Kammer-Dachraum (Grundfläche ca. 11 m2.

Ebenso zahlreich sind jene Häuser, in denen vier Räume verbunden sind: meist Keller-Küche-Kammer-Dachraum. Solche turmartigen Häuser erreichen teilweise üben 10 m, während die Grundfläche (Aussenmasse) nun 16 bis 25 m2 beträgt. Damit hat das Höhenwachstum seine Grenze erreicht. Wohl liesse sich konstruktiv noch ein weiteres Geschoss verantworten, aber die Proportionen wären dann arg gestört und das oberste Geschoss kaum mehr zugänglich. Unter äusserster Ausnutzung der Neigung des Geländes wechselt die Lage der Zugänglichkeit von Geschoss zu Geschoss Wo dies nicht genügt, geleiten Treppen, Aufgänge oder gar Leitern zu Lauben und Türen, die sich oftmals in halsbrecherischer Freiheit ohne sicherndes Geländer um eine Hausecke schwingen. Die Besprechung der vorhandenen Treppen, ihrer Formen und Anpassung an die Gegebenheiten würde allein ein Kapitel füllen.

Grundriss 18c Grundriss Geschosse

18c Grundriss der Geschosse (turmartiges Haus, Rasa TI)

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