Wer die Via Mercato von Camedo Richtung Intragna erwandert, kann sie nicht verfehlen. Etwas ausser Atem vom langen Aufstieg nach Verdasio, leuchtet einem in schönen Tessiner Farben das Bildnis der «Madonna Ungherese» entgegen. Unter dem Marienbild ist zu lesen: „Vero ritratto del imagine miracolosa di Paez nel regno di Ungaria laquale l’anno 1696 nel mese di novembre lacrimò più volte sangue ed acqua.“ (Das wahrhaftige Porträt des wunderhaften Bildes von Paez im ungarischen Königreich, das im November 1696 mehrere Male Blut und Wasser weinte.)
Doch wie kommt ein aus Ungarn stammendes Madonnenbild ins Centovalli nach Verdasio? Wieder war es der Ungar Karl Kerényi (1897-1973), der mir das Geheimnis – zumindest etwas – lüftete. In seiner Eigenschaft als Kulturwissenschaftler, Philologe und Mythologe wanderte er in den Vierzigerjahren durch die Landschaft des Locarnese, die er zu seiner zweiten Heimat erkoren hatte und die er, «wie es Botaniker tun, gerne mit dem alten Namen Insubrien bezeichnete».
Kerényi erkannte eine Verbindung des Marienkults zwischen Ungarn und unserer südlichen Region. «Die Muttergottes von Christinenstadt, in Buda, wurde „Jungfrau Maria der Schornsteinfeger“ genannt und es wurde gesagt, dass sie von einem Handwerker aus dem Süden gebracht wurde.»
Bereits frühere Erforscher der Tessiner Zivilisationsgeschichte (Bonstetten u.a.) beschäftigten sich mit den Verbindungen aus Tessiner Tälern zu zahlreichen Orten in Europa «wo die Schornsteinfeger her kommen, welche Schornsteine in Amsterdam und Rotterdam reparieren». Kerényi schreibt weiter: «Aus ungarischen Briefen vom Ende des 18. Jahrhunderts wusste ich, dass die Art des Heizens und die Bedingungen, unter denen der Winter in den großen aristokratischen Landhäusern verbracht wurde, denen in Ungarn ähnlich waren, wie sie auch im übrigen Mittel- und Nordeuropa herrschten. Wie ich später erfuhr, besteht die Verbindung zwischen Rotterdam und Cavergno, einem Dorf im Maggiatal, dank der Erben der Schornsteinfeger noch heute.»
«Heute erfuhr ich, dass die Pfarrkirche von Christinenstadt Informationen über die Herkunft ihrer Madonna und sogar den Namen des Schornsteinfegers bewahrt hat. Sein Name war Peter Paul Francin, und während der großen Pest von Buda (heute Budapest), unmittelbar nach der Befreiung der Stadt von den Türken, versprach er, falls er überleben würde, mit seiner Familie nach Re, im Valle Vigezzo, zur Madonna des Blutes zu gehen. Er hielt sein Gelübde und brachte 1694, eine Reproduktion zurück. Das bedeutet, dass sich der Schornsteinfeger von Buda dem religiösen Leben in den südlichen Alpentälern nicht fremd fühlte. Seine Herkunft verbindet ihn wahrscheinlich entweder mit dem italienischen Vigezzo-Tal oder vielleicht mit dessen Schweizer Fortsetzung. Verdasio, in den Centovalli, mit seiner «Madonna Ungherese», befindet sich auf dem kürzesten Weg zwischen Re und dem Gotthard-Pass und liegt somit auf der «insubrischen» Straße, die der Schornsteinfeger passieren musste, um Ungarn zu erreichen.» Es wäre also durchaus möglich, dass Paul Francins Wurzeln in Verdasio lagen, wo die Reproduktion schlussendlich ihren Platz gefunden hat.
Bei unzähligen Bildstöcklein und Kapellen war Kerényi immer wieder fasziniert von der Inschrift „In gremio matris sedet sapientia patris“ («Im Schoss der Mutter, liegt die Weisheit des Vaters»). Er siedelte diese Inschrift bei der theologia mystica an, die sich wohl in der Lombardei verbreitet haben könnte, erinnerte sich aber an eine Inschrift aus seiner Heimat Ungarn, unter einem Madonnenbild in der Pfarrkirche von Christinenstadt (heute ein Stadtteil von Budapest). Zum Marienkult schreibt er: «Einige der hervorstechenden und dokumentierten Episoden des Marienkults, im Valle Vigezzo, zwischen Ascona und Re, fanden im 15. Jahrhundert, auf dem Höhepunkt der italienischen Renaissance statt. Acht Jahre vor dem Wunder in Re, ereigneten sich Erscheinungen auf der Straße durch Golino zum Centovalli. Eine schöne Renaissance-Kirche mit einem Portikus, unmittelbar nach Losone, trägt die Inschrift „QVI CANNO MCDLXXXVI APPARVE LA B. V MARIA“ (Hier ist 1486 die Mutter Maria erschienen) … Dies ohne Erwähnung von Blutwundern … Anders verhält es sich mit dem Wunder, das über das bekannte Heiligtum von Re erzählt wird. Das Bild der Madonna, das sich in dieser Kirche befand und bis zu diesem Zeitpunkt nicht besonders verehrt wurde, erlitt durch einen von einem bösen Jungen geworfenen Stein eine Wunde an der Stirn und blutete. In den Tessiner Tälern ist der häufigste Typus der Heiligenbilder in den Kapellen mit dem Zeichen des Blutes und der mystischen Formel versehen…» Dass bei der Madonna in Verdasio nebst den Tränen auch Blut ins Spiel kam, schrieb Kerényi «der mittelalterliche Seele zu, die in Italien mit Blutwundern auf das Heidentum der Hochrenaissance reagierte. … Die Geschichte der geistigen, intellektuellen, religiösen und kulturellen Prozesse läuft hier in einer einzigen Strömung zusammen, die sich von Süden nach Norden bewegt und auf die aus dem Norden kommende trifft. Auf Wikipedia finden sich weitere Erläuterungen dazu *.
Ein letztes Rätsel bleibt auf der Suche nach dem Ursprung des Bildes und des Blutes. Ist Paez nun Pécs oder Pòcs (heute Mariapòcs im Nordosten Ungarns), geht es um Tränen oder Blut und wohin ging die Reise des Bildes? «Das von einem ungarischen Bauern (Csigri) um 1676 auf einen Tisch gemalte Bild verkaufte er für sechs Gulden an einen gewissen Lorenz Hurta. Dieser schenkte es der orthodoxen katholischen Kirche in Pòcs, wo es für zwanzig Jahre blieb, ohne besonders verehrt zu werden. Am 14. November 1696 wurden zum ersten Mal Tränen in den Augen der Muttergottes beobachtet und die Sache wiederholte sich mehrmals bis zum 8. Dezember, dem Tag der Unbefleckten Empfängnis. Die Einwohner von Pòcs behaupten, dass das weinende Marienbild nie von dort entfernt wurde und dass die Muttergottes dort zum letzten Mal im Jahre 1905 geweint habe. Im Wiener Stephansdom wird aber das Original angesiedelt als «Unsere liebe Mutter von Pötsch».
Der Weg von Ostungarn in die Schweiz führte durch das Habsburger Reich und begann wohl in Pòcs. Die Offiziere der kaiserlichen Armee wurden dort vorgeladen, um dem Wunder der weinenden Madonna von Pötsch, einem einfachen, ikonenhaften Tempera-Gemälde auf Ahornholz beizuwohnen. Sogar der Generalleutnant, Befehlshaber der in Oberungarn stationierten Truppen, Graf von Corbelli, wurde einbestellt. Durch ihn erfuhr auch der Wiener Hof von dem wundertätigen Bild. Es wurde am 1. Dezember 1697, ein Jahr vor dem Bau der Verdasio-Kapelle, in die kaiserliche Favorita gebracht und dann von den Augustinern in die Hofkirche überführt, wo sie – so beschreibt es der Stephansdom – „von der heiteren Kaiserin mit einer mit Diamanten und anderen Edelsteinen besetzten Rose geschmückt und mit dem Namen ‚Rosa Mystica‘ geehrt wurde. Sie wurde dann mit einer langen Prozession in den Stephansdom überführt, wo sie zur öffentlichen Verehrung auf einem neben der Schatzkammer errichteten Altar aufgestellt wurde, aber dort nie mehr Tränen vergoss.» Die griechisch-orthodoxe Pfarrkirche von Pötsch erhielt im Jahr 1707 eine originalgetreue Kopie des Gemäldes, welches noch bis ins Jahr 1905 Tränen vergoss.
Ich kann in diesem Blog-Beitrag nicht alle kulturwissenschaftlichen Gedanken Kerénys wiedergeben, die er in seinem «Tessiner Schreibtisch. Mythologisches Unmythologisches, 1963» erwägt. Er zieht faszinierende Verbindungen von der «Schwarzen Madonna in Einsiedeln» zur «Madonna der Schornsteinfeger» in Budapest und wieder nach Ascona zur «Schwarzen Madonna» in der Kapelle der Villa Sogno bis zur «Madonna del Sasso» bei Locarno. Dabei erwähnt er nebenbei auch „den nicht starren Unterschied zwischen dem Schornsteinfeger (spazzocamino) und dem Kaminfeger (fumista), der Kamine baut und repariert.„
In der Tessiner Bibliothek meines früheren Hausbesitzers habe ich schon die eine und andere Trouvaille entdeckt. Für die ersten beiden Beiträge zur Spiritualität in den Centovalli war es das schmale Büchlein «La Madonna ungherese di Verdasio» von Karl Kerényi, welches 2012 in einer Neuauflage bei Armando Dadò Editore (in italienischer Übersetzung) erschienen ist. Leider sind die ursprünglich deutschsprachigen Texte für mich nicht auffindbar.
Geholfen für das Verständnis der doch recht komplexen Geschichte hat mir der sehr schöne italienischsprachige Artikel von Oliver Scharpf in der Zeitung Azione – Settimanale di Migros Ticino «La Madonna ungherese di Verdasio»
Gedankt sei an dieser Stelle auch meiner Nachbarin und Namensvetterin der Madonna, Maria Losem-Steinebach, die mir bei der Übersetzung der italienischen Texte und für die Verständlichkeit der Geschichte zur Seite stand.
* „Wundersame Tränen oder Blutstropfen, die von Gemälden oder Statuen vergossen werden, finden sich am Ursprung einiger Marienwallfahrtsorte in Ungarn. Zeitgenössische Quellen berichten von neun Fällen im späten 17. bis frühen 18. Jahrhundert. Vier davon sind griechisch-katholische (Unierte) Orte, wie Máriapócs, der berühmte Wallfahrtsort in Ostungarn. Diese wundersamen Ereignisse stehen im Zusammenhang mit der damaligen Situation des Landes und der Kirche. Es war die Zeit der Vertreibung der Türken aus Ungarn, die Zeit der Gegenreformation, der Unabhängigkeitskriege gegen die Habsburger und der Bürgerkriege. Die Tränen wurden damals so interpretiert, dass Maria die Leiden des Volkes und die Spaltung der Christenheit bedauerte und sich nach der Wiederherstellung der christlichen Einheit und der Reorganisation der katholischen Kirche sehnte. Die wundersamen Geschehnisse hatten auch eine antiprotestantische Ausrichtung und dienten der Bekehrung der orthodoxen Ruthenen und Rumänen zur katholischen Kirche und der Organisation der griechisch-katholischen Kirche.“ Gábor Barna, Lehrstuhl für Volkskunde der Universität Szeged, Ungarn