Es gibt bekanntlich vier Arten von Strassen im Tessin. Zum einen die Autobahnen für die rollenden Häuser vom Norden in den Süden, zum andern die Brechreiz erregenden Kurvenstrassen in die Täler, die es besonders den Motorradfahrenden angetan haben. Dann kommt Kategorie 3, die Verbindungen in besiedelte Gebiete mit normalen Kraftfahrzeugen, sei dies zur Seesicht oberhalb Locarno oder hoch zu den Dörfern in den Centovalli. Die vierte Kategorie, die Schweisstreibende, wo gestritten wird, ob der talwärts oder bergwärts Fahrende weichen muss, werden ohnehin nur Lebensmüde oder mit bester Lebensversicherung ausgerüstete Fahrer:innen auf sich nehmen. Und um es gleich vorweg zu klären: Im Gegensatz zu Deutschland muss in der Schweiz immer das talwärts fahrende Auto zurückweichen.
Heikel, weil doch zu jeder Tages- und Nachtzeit befahren, ist Kategorie 3, mit verrosteten Leitplanken und Marksteinen aus den frühen sechziger Jahren (oder aus der Eisenzeit). Damals fuhren die geübte Fahrerin und der geübte Fahrer recht unbedarft rauf und runter, denn die Strässchen waren ja von Bäumen gesäumt, die jeden „Fehltritt“ zumindest nicht tödlich enden lassen würden. Das hat sich in den letzten Jahren dramatisch geändert. Ja, einmal mehr der Klimawandel mit seinen immer verrückteren Wettereskapaden hat bereits einige dieser Strassen in Kategorie 4 verwandelt, welche seinerzeit für den Fiat 500 ausgelegt waren, dem Mercedesfahrer nun aber als Todeskurvenlinien mit beängstigenden Abgründen vor Augen erscheinen.
Nicht selbstverständlich, aber wohl mit Blick auf die wichtigen Tourismus-Einnahmen hat sich der Kanton Tessin drei Jahre nach dem grossen Sommersturm erbarmt, die erbärmliche Infrastruktur auf den neuesten Stand zu bringen. Wir reden da nicht etwa von Elektro-Ladestationen, sondern von einfachen, aber beruhigenden Leitplanken. Diese zu bauen ist auch heute noch die schwere Arbeit von – meist – Männern hüben und drüben der schweizerisch-italienischen Grenze. Denen soll hier ein Kränzlein geflochten werden.
Auf der letzten Bergetappe vor der italienischen Grenze haben sich die gestandenen Arbeiter seit bald einem Jahr von Camedo über Borgnone nach Lionza und Costa hochgearbeitet. Gnadenlos, auch im Dezember, Januar und Februar bei Schnee und Eis, Regen, Wind und Wetter haben die tapferen Männer Stück für Stück Leitplanken zumindest an den gefährlichsten Stellen ersetzt. Heute am 16. April 2021 nach dem gestrigen erneuten 30-cm-Schneefall wurde der „Schlussstein“, die Dorfeinfahrt nach Costa, geteert. Meisterleistung, wie die teils riesigen Maschinen auf engstem Raum bewegt wurden. Meisterleistung, wie die Arbeiter die Fragen der Einwohner:innen stets freundlich beantworteten und die teils mürrisch Wartenden an den Baustellen vorbei leiteten.
Ein grosser Dank an dieser Stelle all den namenlosen Helden der Leitplanken. Und wenn Du sie in Zukunft wieder siehst, wink ihnen zu und ruf ein lautes „Tante grazie“ aus dem Fenster!
Ende gut alles gut: Zum Schluss noch eine Bildergalerie von Hans Kern (© all gallery-pictures by Hans Kern), der die Arbeiten am Donnerstag, 6. Mai 2021 begleitet hat. Vielen Dank dafür!
P.S. Wie schon des Öfteren angemerkt: Fotos ohne © stammen von mir selbst. In diesem Beitrag stammen allerdings die meisten Bilder und Videos von Hans Kern und Wilfried Losem.
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Schöner, wertschätzender Beitrag!
Herzlichen Dank!
Ich denke oft, dass die Arbeit an unseren Strassen, eine der härtesten und gefährlichsten Arbeiten ist in unserer Zeit und in unserem Land. Ich versuche den Arbeitern im Vorbeifahren zu zeigen, dass ich sie schätze, indem ich mein Tempo anpasse, Abstand halte, winke, lächle. Ebenso gilt meine Wertschätzung all den Menschen, die für andere putzen und aufräumen, wo auch immer. Danke.
Lieber Robert
Herzlichen Dank einmal mehr für deine wertvollen Beiträge. Ich lese sie immer mit grossem Interesse.
Ja, gestern hat es Borgnone mit dem ausserordentlichen Schneefall bis in die Sendung „Meteo“ geschafft.
Danke für den Beitrag! Heute in einer Woche darf ich die Strasse nach Lionza nutzen. Den Blog, der mir gut gefällt, habe ich heute grad noch rechtzeitig entdeckt.
Einfach eine spannende und schöne Region.