Woher der Monte Gridone seinen Namen hat

Der Berg hoch über der rechten* Talseite der Centovalli hat drei Namen: Monte Limidario, Grenzberg zwischen der Schweiz und Italien, wird auch Gridone oder Ghiridone genannt. Bei gewissen Wetterlagen soll ein Wehklagen und Rufen aus den schroffen Felsformationen zu hören sein. Eine alte Tessiner Sage erzählt, wie es dazu kam. Der Schriftsteller Walter Keller 1882–1966, hat in seinen „Tessiner Sagen und Volksmärchen“ die Geschichte nacherzählt.

„Der Gridone ist ein Gebirge am Langensee, das bei Ronco und Brissago emporsteigt und in das Tal von Cannobio hinunterschaut. Bei Losone ist einer seiner wichtigsten Ausläufer. Sein Name Gridone rührt von folgender Sage her:

Zwischen den Dörfern Losone und Golino. die beide zu Füßen dieses Berges liegen, herrschte seit alter Zeit her Streit, wem von beiden der Wald, genannt Terrasca, gehören solle, und wo die Grenze beider Gemeinden sich befinde. Schliesslich kam man nach langem Streiten überein, jedes Dorf sollte den ältesten und angesehensten Mann auswählen. Diese beiden sollten einander entgegengehen und da, wo sie sich träfen, sollte für immer die Grenze sein.

Nun suchte es aber der älteste Mann von Losone ganz schlau anzustellen. Er ging heimlich auf den Kirchhof, nahm eine Handvoll Erde und streute sie in seine Schuhe. Dann zog er diese an und machte sich auf den Weg, um den Berg herum gegen Golino, gefolgt von einer Schar Leute aus seinem Dorf, die ihn begleiteten. Bei jedem Schritt rief er aus: «Die Erde, auf der ich gehe, gehört zu Losone.» Und so gelangte er schließlich bis ans andere Ende des strittigen Waldes Terrasca, wie die einen behaupteten, bis an den Bergbach Riale, indem er seinem Gegner ein Stück Land raubte, das eigentlich zu Golino gehörte. Sie begegneten sich am Ende des Waldes, und das Männchen von Losone sagte: «Bis hierher geht unser Land.» Der andere wollte es nicht glauben. Da nahm der Losonese die Erde aus seinen Schuhen und sagte: «Siehst du jetzt, dass ich auf meinem Boden hin?» Der andere musste es wohl oder übel glauben, aber gerecht war die Sache nicht.

Als später das alte Männchen aus Losone starb, wollten weder Gott der Herr noch der Teufel seine Seele annehmen, so daß diese in jenen Wald Terrasca zurückkehrte und dort als böser Geist umging, welcher durch sein klägliches Rufen, das man dort hörte, den Leuten Angst und Schrecken einjagte. Die Leute wollten mit der Zeit nicht mehr durch jenen Wald gehen, selbst die Hirten und auch die Kühe und Ziegen sprangen in großen Sätzen davon, wenn sie die unheimlichen Klagetöne im Wald vernahmen. Sogar die Bewohner von Pedemonte jenseits des Flusses hörten von Zeit zu Zeit ein Schreien. Schliesslich liess man den Pfarrer kommen, der die arme Seele beschwor und den Wald segnete, worauf sich der Geist auf die schroffen Felsen und die höchsten Zacken des Gridone zurückzog, von woher man jetzt noch von Zeit zu Zeit ein Rufen vernimmt. Dieses Schreien hört man in der Tat sehr wohl in Cavigliano, das gegenüber dem Gridone liegt, und besonders deutlich dann, wenn der Wind von Süden her weht.

Von diesem Schreien (gridare) hat der Berg Gridone seinen Namen erhalten.“

Walter Keller: Tessiner Sagen und Volksmärchen – mit Illustrationen von Aldo Patocchi, 1981, EDITION OLMS ZÜRICH, vergriffen. Publiziert mit freundlicher Genehmigung von Herrn Manfred Olms, Verlag Edition Olms AG, 8618 Oetwil am See/Zürich

Abendstimmung über dem Monte Limidario

*orographisch

4 Antworten auf „Woher der Monte Gridone seinen Namen hat“

  1. Buongiorno!
    Sto trascrivendo una storia legata alle streghe del monte Gridone che mio zio mi raccontava da bambina.
    Mi interessa l’immagine di Aldo Patocchi. Da dove è stata ripresa?
    Grazie cordiali saluti

    Loredana Manfrina Lepori

    1. Ciao Loredana
      Le illustrazioni di Aldo Patocchi sono tratte da un libro antiquario di Walter Keller (c) 1940 di Basilea intitolato „Am Kaminfeuer der Tessiner – Sagen und Volksmärchen“. A mia conoscenza, il libro non è stato tradotto in italiano. È stato pubblicato nella Biblioteca Elvetica da M.S. Metz, Zurigo.
      Cordiali saluti e buona fortuna!

  2. Wiederum, lieber Robert, hast Du mit Deinem Blog Erinnerungen wachgerufen. Ich bestieg den Gridone im Laufe der Jahre mehrmals von der Centovalli-Seite aus, sehe im Sattel neben dem Gipfel einen blühenden Goldregenbusch über einem Schneefeld unter tiefblauem Himmel vor mir, dann in einem anderen Jahr das traurige Bild einer vom Blitz erschlagenen Schafherde vor dem Aufstieg zum Gipfel. Ich erinnere mich an die beiden italienischen Bergsteiger, die nur Wein mitgenommen hatten und so durstig waren, dass sie unter dem Gipfelkreuz meinen Schwager und mich (erfolgreich!) fragten, ob wir etwas von unserem Wasser gegen Barbera eintauschen würden. Zum ersten Mal bestieg ich den Berg als 14-Jähriger in Begleitung eines mit Pickel und Seil ausgerüsteten Basler Studenten. Inspiriert von der Erstbesteigung des Mount Everest hatte ich die Besteigung des Gridone schon fünf Jahre früher auf einer Landkarte geplant: Aufstieg von Remagliasco aus (ca. 400m ü. M.) nach Rasa (ca. 900 m), Abstieg nach Bordei (ca. 730 m) und von dort Aufstieg zum Gipfel (2187m), mit Basislager in Bordei und einem zweiten Lager im Val di Bordei. Die kühne Besteigung wurde dann schliesslich zu einem (allerdings anstrengenden!) Tagesausflug…

  3. Lieber Robert

    Einmal mehr – herzlichen Dank für die informativen Blogs – ich freue mich jedes Mal sehr, in eine interessante Thematik einzutauchen!

    Stefania Rinderknecht

Schreibe einen Kommentar zu Kurt Hutterli Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert