Zeit unter die Decke zu kriechen

Wenn die letzten Blätter am nassen Boden liegen oder sich mit dem ersten Schnee vermischen, ist das Jahresende nicht mehr weit. Je älter ich werde, auch für mich eine besinnliche Zeit. Die anstrengende Gartenarbeit ist vorbei, der Lebensmittelpunkt richtet sich nach der wärmenden Stube. Wehmütig denke ich an die überhitzten Tage dieses Sommers zurück. An die golfballgrossen Hagelkörner und die sintflutartigen Regenfälle, die im Tal soviel Schaden angerichtet haben. Langsamkeit, ja Langeweile kehrt ein und der Blick ins flackernde Kaminfeuer weht rückwärts. Vierzig Jahre liegen meine ersten Ferien im Centovalli zurück, an den geschliffenen Steinen unten in der Melezza Abkühlung suchend.

Wie wenig hat sich seit der Mitte meines Lebens hier verändert. Die Kurven des Tals kenne ich im Blindflug, wenn ich den Frontalieri zu entwischen versuche.  Die Seilbahn nach Rasa hat ihre futuristischen Projekte überlebt und windet sich als alte Blechbüchse weiterhin den Berg hinauf. Von den wenigen Grotti und Osterias gibt es  heute noch weniger, dafür wohl mehr Tiere. Die Wildschweine, Rehe, Füchse und Dachse haben unseren Garten längst eingenommen und Hunde bellen von links und rechts.

Die meisten Nachbarn sind gestorben oder haben ihre Häuser verkauft. Nur einer war schon immer da. Ein Strahlen erfasst mich, wenn ich seinen Wagen auf der Talstrasse kreuze. Ob er mich gesehen hat? Ob er wohl noch eine Millefoglie hinten in seinen Körben übrig gehabt hätte? Er ist für mich der Inbegriff jener Anfangszeit mit all den freundlichen Leuten, die ihn auf dem Dorfplatz erwarteten, um ein paar Brötchen zu ergattern und dafür nicht nach Intragna fahren zu müssen. Ja, Ercole, unser Bäcker!

Seine Pilgerreise über den Jakobsweg hat der 75-jährige längst hinter sich. Auch viele andere Meriten dürften sich wie Pokale in seiner Backstube aufreihen. Sein weihnachtlicher Panettone hat, wenn nicht Weltruhm, so doch überregionale Beachtung gefunden. Die Inhaberin des trendigen Babu’s Coffeehouse an der Löwenstrasse in Zürich, fragte mich einmal über meine Website nach seiner Adresse, um das feine Gebäck zu servieren. Aber der bescheidene Bäcker zeigte sich nicht interessiert. Vielleicht war es der Geschäftssinn seines Sohnes, dass der Panettone in der Adventszeit später doch noch an der Bahnhofstrane zum Verkauf stand. Die Tessiner Zeitungen feiern Ercole Pellanda regelmässig und sogar „Schweiz Aktuell“ hat ihm einen TV-Beitrag gewidmet. Ehre, wem Ehre gebührt …

Auf viele Dinge freue ich mich aber auch am Jahresende. Hier oben in Costa, nahe der italienischen Grenze, geht die Sonne in der dunkelsten Winterzeit nämlich zweimal täglich auf. Sie strahlt in meine Küche und verbirgt sich danach nochmals für eine Stunde hinter dem Giridone, um ein zweites Mal Lebensfreude in den späten Morgen zu bringen. Mit Bedauern blicke ich dann auf die andere Talseite, wo dem kleinen paese Moneto während mehr als einem Monat überhaupt keine Sonne vergönnt ist.

Ob das Centovalli am Neujahrstag wieder einmal verschneit in glitzernder Winterpracht erstrahlt? Die Stille des  Tals wird dann zum Vakuum, das Dich in die frühe, vom dunkelsten Blau erfüllte Sternennacht himmelwärts zieht. Am 27. Dezember 2023, um 01.33 Uhr herrscht Vollmond. Vielleicht erhellt er dann das weiss bedeckte Tal wie in früheren Zeiten, ganz ohne Zutun der Menschen.

Ich wünsch eu allne es guets Neus, vil Glück und Zfriedeheit, aber au Gedanke a diä Mänsche, wo all das nöd händ.

3 Antworten auf „Zeit unter die Decke zu kriechen“

  1. Einmal mehr schön gewählte und informative Worte – Besonders geschmunzelt habe ich bei „… wenn ich den Frontalieri zu entwischen versuche.“

    Ich wünsche Dir einen schönen und sonnigen Winter, sowie einen guten Rutsch ins neue Jahr.

  2. lieber Robert, eine so schöne herzenserwärmende Lektüre an diesem grauen Morgen. Ganz herzlichen Dank.
    Im Februar 2024 wird es eine neue Filiale von Babu am Bellevue geben. Ich freue mich sehr.
    Für heute liebe Grüsse aus Zürich Therese

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