Rovine del Castelliere

Den ersten Blick in die verborgene Welt der Centovalli wirft man aus dem Pedemonte nach Intragna. Das Dorf zwischen den Flüssen Melezza und Isorno wuchtet – an höhere Regionen in Nepal erinnernd – wie eine steinerne Pforte am steilen Hang. Wer gleichzeitig den Blick zum See und ins Maggiatal geniessen will, steigt aber bereits in Tegna zu den Ruinen der Castelliere hoch. Nur dreissig schweisstreibende Wanderminuten trennen den Dorf- und Parkplatz von den auf 530 m ü. M. gelegenen Burgruinen.

Burgruinen erinnern uns doch ans Mittelalter. Ja, da gab es wohl so etwas nach dem Ende der Römerzeit. Doch schon nach den ersten Atemzügen in luftiger Höhe spürst Du, da ist mehr, da war mehr. Du siehst die schöne Hochebene, das verschlungene Baumpaar und lässt Dich von den seltsamen diagonalen Linien der Ruinen fesseln. Was für ein Gefühl in vergangene Zeiten gezogen zu werden, was für eine Kraft Du spürst. Ist das etwas Mystisches oder einfach Geschichte?

Die informativen Tafeln im Gelände erzählen von der Jungsteinzeit 5500 v. Chr. über die Bronzezeit und die Eisenzeit bis zu den Römern. Allerlei historische Aspekte, die seit den archäologischen Grabungen in den 40-er Jahren des letzten Jahrhunderts durch immer neue Funde belegt wurden. Also eine Burg, eine Festung, ein Wachposten? Das Museo Regionale delle Centovalli e del Pedemonte erläutert dies auf den Tafeln vor Ort und im Internet. Doch ist das alles? Ich spüre mehr.

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Dabei bin ich auf eine Schrift des Ungarn Karl Kerényi (1897–1973) gestossen: Castelliere – Analogie zu einem Heiligtum von Theben. Der klassische Philologe und Religionswissenschaftler hinterfragt die Hypothese des römischen Kastells. Der quadratische Grundriss wie auch die parallelen und diagonalen Wände entsprächen dem keineswegs und würden eher auf eine ursprüngliche Kultstätte hinweisen. «Der zentrale Teil der Anlage wurde über einer unterirdischen Konstruktion errichtet, die durch eine Reihe von drei Bögen in zwei Logen geteilt war, aber er war so imposant, … dass seine eminente Bedeutung für den Kult, dem der Tempel gewidmet war, nicht bezweifelt werden kann. … Auch die Trennlinie des unterirdischen Raumes bestätigt die Ost-West-Orientierung, als Beziehung eines Kultes zur Gottheit.» Also Mythologie?

Kerényi zweifelt die viel geäusserte Interpretation einer möglichen Zisterne an und schlägt den Bogen direkt zu einem Heiligtum von Apollo Ptoos im griechischen Beozia. «Rein geographisch gesehen ist die erwähnte Region Griechenlands von der Schweiz ziemlich weit entfernt. Sprachwissenschaftliche Forschungen haben jedoch immer wieder die signifikante Präsenz eines vorhellenischen, aber nicht vorindogermanischen Bestandes in der Schichtung der Bevölkerung in Beozia aufgezeigt, dessen Verästelungen bis nach Südosteuropa reichen. …  und deren bekannteste Vertreter die Illyrer im Südosten und die Ligurer im Südwesten waren, die Vorgänger der Kelten.»

Eine Beziehung zu Kultstätten in Griechenland, insbesondere zum Orakel von Trophonios, begründet Karl Kerényi recht anschaulich. «So wie hier das Tal der Maggia knapp unterhalb der Kultstätte den Charakter einer Schlucht annimmt, so betritt der Besucher des Trophonius-Tempels in der Nähe der Stadt Lebadea zunächst die Ercina-Schlucht, die dort, ebenso wie hier die Maggia, fast unterirdisch unter dem Berg Saero verläuft und dann plötzlich wieder einen freieren Verlauf nimmt. In diesem Tal konnte man eine Höhle besichtigen, in der sich eine der Quellen der Ercina befand: in der Höhle waren gemäss der Beschreibung des Pausanias (griechischer Reiseschriftsteller und Geograph aus dem 2. Jahrhundert n. Chr.) zwei Gottheiten mit einem Stab und einer Schlange dargestellt: Der Gott des Orakels, Trophonio – eine Gottheit mit einem Namen, der nicht typisch griechisch, sondern eher „illyrisch“ ist – und die Gottheit des Flusses Ercina.

Überraschend ist die Tatsache, dass man, um die eigentliche unterirdische Anbetungsstätte dieser Gottheit, seinen Tempel, zu erreichen, sogar den Berg besteigen musste. Für diejenigen, die Trophonius aufsuchen und von ihm ein Orakel über ihr Leben erhalten wollten, war dieser Weg eine Art Einweihung. Oben auf dem Berg befand sich nach der Beschreibung von Pausanias, in der Antike eine kreisförmige, knapp einen Meter hohe Mauer aus weißem Marmor zur Begrenzung einer Art Lagerplatz. Die Spaliere tragende kreisförmige Mauer hatte Türen, die einen Zugang zu einer Konstruktion von zwei Metern Breite und vier Metern Tiefe schuf, welche selbst nicht mehr war als ein Peribolos (hl. Bezirk um den Tempel). Das Gebäude glich einem Ofen, wie man ihn, angelehnt an griechische Bauernhäuser finden kann, vergleichbar mit einem riesigen halben Ei. Durch eine Öffnung an der tiefsten Stelle des „Ofens“ wurde der Besucher mit Hilfe einer dargebotenen Leiter in den unterirdischen Tempel geführt, um das Unvergessliche zu erleben.»

Und nun? Kannst Du Dir vorstellen, dass auch hier einmal Menschen ein Orakel nach ihrem Schicksal befragten? Klingt der Kraftort in Dir an? Oder siehst Du ganz einfach die Grundmauern von Wachposten eines römischen Castells?

Mach Dir selbst ein Bild! Im Frühjahr und Herbst ist schon die Aussicht Entschädigung genug für den Aufstieg. Wenn Du darüber hinaus beeindruckt bist, schreib doch einen Kommentar (auf den Titel des Beitrags klicken und nach unten scrollen).

Die Zitate sind dem italienisch-sprachigen Büchlein von Karl Kerényi in freier Übersetzung entnommen: «La Madonna ungherese di Verdasio», wovon auch mein nächster Beitrag handeln wird.
© Armando Dadò editore, Locarno 1996 – ISBN 88-86315-32-5

Weitere Quellen:

Auch Claudio Andretta beschreibt und erforscht in seinem Buch «Orte der Kraft im Tessin» (ISBN: 978-3-03800-773-9) das 41’000 m2 grosse Areal, die Rovine del Castelliere.

Rolf Amgarten schreibt in seinem Artikel vom 5. September 2020 in der Tessiner Zeitung «Imperien zerfallen, aber der Kraftort bleibt». Er weist zudem darauf hin, «dass die Gestaltung der Anlage, wie sie heute zu sehen ist, dem erfolglosen Nationalparkprojekt des Locarnese geschuldet ist. Was Sache wäre, ist, dass diese Anlage eines der Juwelen des neuen Parks hätte werden können. Nun steht das Juwel für sich ohne Anschluss an eine Kette, was vielleicht auch nicht so schlecht ist.»

Das Orakel von Trophonios ist in diesem Video zu sehen.